Das neue Schuljahr war gerade vier Tage alt, als der Viertklässler beim Wald-Spaziergang heiter springend die Zeugnissprüche seiner Klassenkameraden rezitierte. Auch den Morgenspruch, den sie als Klasse zum Beginn des Unterrichts gemeinsam sprechen. Sein ganzes Wesen strahlte. Die Laute, Sprachmelodien, Rhythmen und Bilder erfüllen ihn. Sie geben seiner Seele Nahrung und Lebensfreude fließt.
Mich beglückt es, das zu erleben. Und ich empfinde tiefe Dankbarkeit gegenüber einer so feinen, zu tiefst menschlichen und liebevollen Pädagogik, wie sie Rudolf Steiner inspiriert hat. Und dass Lehrer sie für ihre Klasse ausgestalten!
Mir ging es, wie dem Jungen. Ich nahm die Komposition, wie unsere Lehrerin unserer Klassengemeinschaft einen friedlichen und ästhetischen Rahmen zu geben wusste, tief in mich auf. Alles bedachte und gestaltete sie kunstvoll mit Balladen, Geschichten, Sprüchen, Liedern, Gehandarbeitetem, Tafelbildern und Jahreszeitentischen zum Zwecke unserer Entwicklung in einer lichten und warmen Atmophäre. Und später im Leben, auf dem Fahrrad, bei der Arbeit, in der Krise, erinnere ich mich der Schätze, die sie in mich legte, kann sie hervor holen und mich mit ihnen auf´s neue verweben.
Ich erinnere mich, wie mir als junger Krankenpflegeschülerin im Stationsgeschehen einige Verse des Abendglockengebetes in die Gedanken fielen. Wir hatten es irgendwann in der Mittelstufe gesprochen. Und wie diese Verse die fehlenden, im Vergessen versunkenen, zurück ins Bewusstsein gezogen hatten – einfach nur, weil sie mich freudvoll erfüllten und sie irgendwo in mir schlummerten.
Abendglockengebet
Das Schöne bewundern,
Das Wahre behüten,
Das Edle verehren,
Das Gute beschließen:
Es führet den Menschen
Im Leben zu Zielen,
Im Handeln zum Rechten,
Im Fühlen zum Frieden,
Im Denken zum Lichte;
Und lehrt ihn vertrauen
Auf göttliches Walten
In allem, was ist:
Im Weltenall,
Im Seelengrund.Rudolf Steiner