Das kleine Kind

Kinder mit der eigenen Aufmerksamkeit führen

Wir sind in unserem Schlafraum. Es ist kurz nach zwei. Meine Nachmittagskinder sind mit mir hier geblieben. Die anderen werden im Erdgeschoss von ihren Eltern abgeholt.

Hier unter dem Dach ist es wohlig warm. Ein Kind schläft noch. Es muss behutsam von ganz weit her zu uns aufgeweckt werden. Das mache ich, während sich die anderen Kinder zwischen Fellen, Decken und Kissen um ein Edelsteinkörbchen tummelten. Wir sind genau dort, wo die Ewigkeit uns findet. Niemand drängt uns, nichts zieht uns, keiner braucht irgendetwas. Wir sind einfach da. Zufrieden. Und bereit zu empfangen, was immer kommen will.

Das Kind, ein dreijähriger Junge, erwacht langsam. Unsere Herzen sind einander sehr zugetan, aber wir kannten uns noch nicht lange. Nachdem er dann fidel geworden war, wollte ich, dass er zu mir kommt. Ich glaube, ich wollte ihn windeln. Er lief aber weg, sprang um den Tisch und erwartete freudvoll, dass ich ihn nun fange.

Ich schreibe Ihnen das, weil er mir in der Zeit, die wir zusammen an den Nachmittagen hatten, auf ganz schöne Weise geholfen hat, meine pädagogischen Methoden zu erweitern und zu verfeinern. Das tat er, indem er so sehr empfänglich für sie war. Er zog mit seiner feinen Hingabe die anderen Kinder mit. Half mir damit also, sie zu führen. Ich habe viel gelernt mit ihm.

Jetzt war es also so, dass ich ihm hinterherrennen sollte… Ich fand das nicht sehr amüsant – und probierte etwas aus. Ich hatte erkannt, dass die Kinder meiner Aufmerksamkeit folgen. Dass ich sie, meine Aufmerksamkeit, wie einen Magneten nutzen kann. Wohin ich sie schicke,  folgen die Kinder wie ein Staren-Schwarm. Sie wollen darin sein. In meiner Aufmerksamkeit. In UNSERER Aufmerksamkeit!

Wenn ich den Jungen also über den Tisch hinweg anschaue, ist er in meiner Aufmerksamkeit. Anstatt ihm hinterherzuhechten, zog ich nun meine Aufmerksamkeit von ihm ab, wie Dumbledore die Straßenlichter in seinen Auszünder. Ich holte sie ganz dicht an mich heran. Auf dem Boden lag ein kleines lila Wollfädchen. Darauf bündelte ich das Licht meiner gesamten Aufmerksamkeit.

Ich staunte. Bückte mich wie zu einem kleinen Wunder zu ihm hinunter. Nahm es behutsam auf. Trug es vorsichtig in umschlossenen Händen vor meinem Herzen dort hin, wo ich den Jungen haben wollte. Lauschte ganz still hin zu meinen Händen.

Promt eilte er herbei. Angezogen von meiner aktiven Aufmerksamkeit. Voller Neugier, meinen Schatz zu sehen. Ich halte ihn an mein Ohr. Höre.

Oh, wie ist das Kind in tiefer, inniger Freude, zu erfahren, was ich da habe. Die anderen Kinder haben es sofort mitgekommen.

Das ist auch so ein Gesetz: Nichts ist spannender und attraktiver als eine schöne Beziehung. Sie wird immer bemerkt und wirkt anziehend.

Die Kinder bilden eine Traube um uns. „Ein kleines, klitze kleines Schlängchen hab‘ ich“ vertraue ich ihnen flüsternd an. Wir freuen uns zusammen.

Jetzt sind wir vereinigt in einer Gemeinschaft. Unser Hören, Staunen und Erleben ist verbunden in EINER Sache . Wir stehen einander nicht mehr gegenüber. Schauen Seite an Seite gemeinsam auf etwas Drittes.

Ich lasse das Schlängchen nicht hinaus. Höre immer wieder. Sage, wie es sich kitzelig anfühlt. Und dann, ups, streckt es seine Schwanzspitze heraus. Die Kinder quieken vor Glück. Ihre Fantasie ist lebendig, sie greifen das Spiel auf und führen es fort.

Später unten im Gruppenraum hat das Spiel schon einige Metamorphosen durchgemacht. Wir haben einen sehr goldenen Nachmittag.

Ich übergebe ihnen meinen Schatz und der Junge lässt sich Windeln. Er ist mit seiner Aufmerksamkeit mitten unter den anderen, innerlich bewegt und vertieft: Bei dem Fädchen. Oder der Schlange. Dort, wo unser aller Herzen zusammen schwingen.

2 Kommentare

  1. Schöne Geschichte!
    Ja, du beschreibst etwas, von dem meine Mama früher sagte, „ABlenken“ ist gut… Aber es ist eben nicht nur das ABlenken von dem eigenen Impuls, den das Kind hat. Es ist das HINlenken auf etwas Drittes, Beziehungshaft- Schönes. Dann kann es seine Flausen in dem Moment „vergessen“ und sich besinnen auf etwas, was „noch“ schöner ist als Quatsch Machen…

    • Liebe Ulla,

      vielen Dank!
      Ja, ich erlebe auch einen großen Unterschied zwischen bloßem Ablenken und gezieltem Hinlenken zu etwas Neuem, Schöneren.

      Das Hinlenken erfordert auf jeden Fall von uns, dass wir innerlich wendig und athletisch werden. Diese Kunst kann bestimmt ein Leben lang gesteigert werden:-) Man muss sich zu Beginn erst einmal selbst orientieren, wohin man das Kind nun lenken könnte…?

      Dann geht die Welt der Sinne und der eignen Wahrnehmung auf:-)

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