Wir haben im Kindergarten am Mittagstisch eine Unterhaltung. Ich sage: „Meine Mama konnte auch richtig gut zaubern!“ und steige in die Freude der Kinder ein, die gerade vom Zaubern sprechen.

Ein Dreijähriger fragt: „Hast Du nur noch einen Vater?“. – „Ja,“ sage ich, „meine Mama ist schon lange im Himmel.“ – „Warst Du da noch ein Kind?“ Ich bejahe. „Mamas dürfen noch nicht so früh sterben. Das ist ganz schlimm. Wir brauchen sie doch, wenn wir noch klein sind.“ Das sagt  er ganz sachlich – ohne Not, aber mit Ernst. „Ja, wir brauchen unsere Mütter!“ Wir schauen uns an und sind uns einig. Ich nehme das Gesprochene und seinen tief bewegten Blick in mein Herz. Und die Unterhaltung geht weiter übers Zaubern.

Nachdem ich von einem Kindergarten-Vater gefragt wurde, wie er mit seinen Kindern über den Tod der Urgroßmutter sprechen könne, ließ ich am Abend den Blick über mein Bücherregal schweifen. „Die Erdenreise des kleinen Engels“ von Hilda Herklotz passt dazu genau. Sie berichtet zwar vom Abstieg aus dem Himmel über den Regenbogen auf die Erde, aber daran kann der Aufstieg der Verstorbenen in den Himmel angeknüpft werden. Es eignet sich für Kinder, weil es in Bildern spricht. Kinder leben in Bildern, denn sie sind selbsterklärend:

Es war einmal ein kleiner Engel, der hatte alles gesehen, was es im Himmel gab. Da guckte er durch die Wolken hinaus, ob nicht sonst noch etwas zu sehen wäre. „Oh“, rief er auf einmal, „was ist denn da unten so groß und dunkel?“ – „Das große Dunkle da unten, das ist die Welt“, sagte ein größerer Engel. „Kann man da hinunter?“, fragte der kleine Engel. „Das kann man schon“, sagte der größere. „Aber was willst du dort? Die Welt ist noch dunkel und leer, und du wärest da ganz allein.“

Der kleine Engel aber entdeckt, dass die Welt schon viel schöner geworden ist! Rot und darum herum flackert es gelb! Er will hinunter. Aber der Größere hält hin noch zurück: „Warte noch ein Weilchen, es ist noch zu früh.“

Und so sieht der kleine Engel Buchseite für Buchseite, wie die Welt farbiger und lebendiger wird. Alle Pflanzen und Tiere entstehen! Und dann, als die Welt fertig ist, ist die Zeit reif, dass er über den Regenbogen hinunter steigt.

Der Regenbogen

In der Geschichte vollzieht sich die Schöpfungsgeschichte der Erde, deren Stadien im Bild der embryonalen Entwicklung des Kindes gleichen. Hat das Kind die Bilder der Geschichte zur Verfügung, könnte so an die Geschichte der Verstorbenen angeknüpft werden:

„Die Urgroßmutter Elisabeth ist nun schon ganz lange auf der Erde gewesen! Erst ein niedlicher kleiner Säugling, als sie auf die Erde kam. Dann ist sie gewachsen. Wurde fünf und sechs. Da kam sie in die Schule. Und – die Zeit verging wie im Flug – da war sie schon erwachsen. Als junge Frau hat sie Heinrich kennengelernt. Die beiden hatten sich so lieb, dass sie ihr Leben zusammen verbringen wollten. Sie heirateten und dann bekamen sie ein Kind! Wisst ihr wer das war? Ein Mädchen. Hanna haben sie es genannt. Es war zuerst ganz klein und wurde rasch immer älter. Eines Tages war auch sie eine junge Frau und lernte Emil kennen. Die beiden liebten sich und wollten immer zusammen bleiben im Leben. Da heirateten sie. Auch zu ihnen kam ein Kind. Und das bin ich. Was meint Ihr, wie sie sich gefreut haben! Nun sind Hanna und Emil meine Eltern. Und Elisabeth und Heinrich meine Großeltern.

Und dann, als ich erwachsen geworden war, habt ihr vom Himmel herunter geschaut und dafür gesorgt, dass Mama und ich uns kennenlernten. Das habt ihr wirklich gut gemacht! Darüber sind wir sehr froh! Auch wir wollten von nun an alles zusammen machen im Leben – und schon kam unser erstes Geschenk vom Himmel. Das war Aurelia. Dann, zwei Jahre später beeilte sich Miro zur Welt zu kommen. Und letztes Jahr haben wir Mara empfangen. Da seid ihr nun bei uns. Und wir sind glücklich, dass ihr zu uns gekommen seid! Eine größere Freude gibt es nicht! Jetzt bin ich euer Papa! Meine Eltern sind eure Großeltern, Großmutter Hanna und Großvater Emil. Meine Großeltern sind nun eure Urgroßeltern, Urgroßvater Heinrich, der schon sehr früh gestorben ist und Urgroßmutter Elisabeth.“

Nun würde ich den Kindern erst einmal eine Pause gönnen. Und überhaupt zwischen den Aussagen immer Raum zum Staunen lassen. Was sie gehört haben, ist Stoff für viele eigene innere Bewegungen. Lassen wir sie. Greifen wir nicht vor.

Dann kann eine Geschichte aus dem Leben der Verstorbenen anschließen: „Und wisst ihr… Urgroßmutter Elisabeth hatte als Kind nämlich… ein eigenes kleines Beet im Garten hinter dem Haus…“ Und Sie erzählen, was sie dort erlebt und gemacht hat. Eine Geschichte, in der Bilder entstehen, mit denen die Kinder sich verbinden können, die sie lebendig innerlich anschauen können.

Dann könnte es so weitergehen: „Nun, das ist jetzt fast 100 Jahre her. Sie ist nun eine ganz alte Frau geworden. Und hat sehr viel gesehen von der Erde. Ihr Haar ist schon ganz weiß und dünn. Und die Haut hat viele kleine Runzeln. Laufen kann sie nur langsam und sprechen nur leise. Da merkte sie, dass es an der Zeit ist, wieder zurückzugehen, in den Himmel, wo sie ja herkam. Und gestern, da hat sie ihre Reise angetreten. Ihren Körper hat sie abgelegt. Und ist nun auf dem Weg zu Urgroßvater Heinrich und ihren Eltern und Geschwistern, die alle schon gestorben sind. Sie warten auf sie und freuen sich, sie im Himmel zu empfangen. Und ihr Schutzengel natürlich, der sie durch das ganze Leben begleitet hat.  Wir wissen, dass sie schon auf uns warten und uns im Himmel empfangen wird, wenn wir einmal zurückkehren.“

Sterben begleiten

Mit meiner Cousine habe ich als Sechsjährige Bilder auf Blanko-Postkarten für meine Oma gemalt. Mein Vater hat sie mit Reißzwecken in ihren Sargdeckel gepinnt. Ich erinnere mich, dass für mich an Omas Tod nichts Schreckliches hing. Sie ist gestorben. Einmal sterben wir alle. Sie ist jetzt nicht mehr in ihrem Körper. Aber im Himmel. Da kann man auch an sie denken und sie ist außerdem immer da. Und ihr auch Geschichten erzählen. Und Lieder singen. Und ihr blühende, duftende Blumen zeigen.

Den Sterbeprozess meiner Mutter habe ich als Zehnjährige bewusst miterlebt. Meine Eltern haben nicht von sich aus mit mir darüber gesprochen, aber auch nichts künstlich von mir ferngehalten. Wenn ich Dinge ansprach, waren sie ehrlich. Ich wusste, dass sie schwer krank war und nicht wieder gesund werden würde. Aber es änderte sich nichts. Nur dass sie eine Halskrause trug. Und viel im Bett lag. Und operiert werden musste. Da haben wir sie natürlich besucht. Und später konnte sie nicht mehr laufen. Sie kam auf eine Palliativ-Station. Extra für Schwerkranke. Dort war es sehr schön. Und alle waren sehr freundlich. Es war eine sehr innige Zeit. Außerdem war sie schwanger und wir erwarteten meinen Bruder, auf den ich mich schon so sehr freute und den die Ärzte zehn Tage bevor unsere Mutter sterben musste, ins Leben holten.

Es ist schwer beschreibbar, was es bedeutet, wenn die unerschütterliche und bedingungslose mütterliche Liebe entrückt. Ihre Liebe ist das Milieu, in dem das Urvertrauen wurzelt und in dem das Kind sich unbschwert entwickeln kann. Ich habe erlebt, dass aber Gemeinschaften dem verlassenen Kind etwas von dem geben können, was es bitterlich vermisst und braucht. In meinem Fall waren es meine Waldorfschule und die Kinder- und Jugendferienkultur der Christengemeinschaft. So viel Interesse und Freundlichkeit in einem kulturell reichen Rahmen strömten mir aus diesen Gemeinschaften entgegen, in denen ich den Blick auf das Kind, das ich war, so persönlich und liebevoll erlebte, dass sie mich seelisch nähren und tragen konnten.

An dem Abend, als meine Mutter gestorben ist kam ich zu ihr. In ihr Patientenzimmer. Friedlich lag sie da in ihrem Bett auf einem weichen Fell. Kerzen brannten. Der Raum war erfüllt mit Licht und Frieden. Mit ihr. Sie hatte ihren Körper verlassen. Das Leben war nicht mehr darin.

Eine Frau gab mir eine schöne Dose mit Creme – und ich cremte ihren Körper ein. Erlebte, dass sie nicht mehr darin war. In dem mir so vertrauten Körper.

Mein Vater blieb bei ihr. Und mein Onkel fuhr mit mir zurück. Drei Tage war sie aufgebahrt. Ich durfte alleine bei ihr sein. Und erlebte, wie sie sich immer weiter von ihrem Körper entfernte. Aber abgerissen ist unsere Verbindung nicht.

Zur Trauerfeier kamen viele Menschen. Und später, als sie eingeäschert war, fuhren wir zu dritt auf den Friedhof. Ich hatte die Urne in meinen Händen. Und legte sie in das kleine Loch in das Grab, in dem schon Oma und die Urgroßeltern beerdigt lagen.

Es ist schmerzhaft, geliebte Menschen zu „verlieren“. Wir können es nicht ändern. Es ist so. Das einzige, was wir tun können, ist, einen würdigen Umgang damit zu finden. Und einen Weg, lebendige Beziehung mit unseren Verstorbenen zu leben.

Wirklich würdig begleitete Sterbeübergänge habe ich als Krankenpflege-Praktikantin in der Filderklinik bei Stuttgart erlebt. Und in einem anthroposophisch geführten Krankenhaus in Schweden, wo ich als ganz junge Krankenschwester zehn Monate auf der Palliativ-Station arbeitete. Dort haben sich so ernsthafte und wunderschöne Geschichten ereignet, die ich eines Tages einmal erzählend für sie auf meinem Blog einfangen möchte.

Für meine Mutter, und die inzwischen vielen anderen Verstorbenen, leuchtet seither eine Kerze auf dem Tisch.


Erschienen in der Zeitschrift „Erziehungskunst – Frühe Kindheit“ Winter 2022.