Wahrheit entsteht durch das Hinufügen eines wirklichkeitsgemäßen Gedanken zu einer Wahrnehmung. In der Regel, wenn nicht eine psychische oder neurologische Störung vorliegt, können wir unserer sinnlichen Wahrnehmung trauen. Sinne nehmen wahr, nicht falsch. Sie schenken uns die Wahr-Nehmung.

Wenn wir uns geirrt haben, dann ist das an der Stelle im Erkenntnisprozess geschehen, an der wir an die Wahrnehmung einen Gedanken geknüpft haben.

Während die Wahrnehmung immer wahr ist, können wir uns in der gedanklichen Verknüpfung vertun. Wir können zu einem schrägen Urteil kommen, wenn wir Gedanken an Wahrnehmungen knüpfen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Darin besteht dann der Irrtum.

Bei Kindern können wir diesen Erkenntnisprozess schön beobachten. Ich belehre sie nicht. Ich nehme das Kind liebevoll auf und lasse ihm die Möglichkeit, eines Tages selbst den richtigen Zusammenhang zu erkennen. Ich lächle „meine“ Kinder nur verschmitzt an, mache eine „wer-weiß-das-schon-so-geanu?“-Geste und freue mich, dass ich Zeuge ihres Einlebens in die Erdenverhältnisse bin.

Hier einige Beispiele aus dem Kindergarten:

Lena, ein dreijähriges Mädchen, hat nur ein T-shirt an, als ich mittags die Gruppe betrete. „Hast Du auch einen Pullover?“ fragt ich. „Ja, der ist dreckig geworden. Der liegt auf der Heizung.“ – „Hast Du ihn gewaschen?“ –  „Nein, wir waschen ihn nicht. Wir legen ihn diesmal auf die Heizung. Dann geht der Dreck in die Heizung.“

Ein sechsjähriges Mädchen beobachtet, wie die Seidengardine (über der warmen Heizung) sich aufbläht und nach oben schwebt. Wir sitzen am Esstisch. Ich sitze neben ihr – und sie fragt mich: „Pustest Du die Gardine hoch?“. Das ist natürlich ein Geheimnis, das ich ihr nicht verraten kann. Ich freue mich nur mit ihr, dass es so rätselvolle Dinge in der Welt gibt.

Ich stehe mit einem sechsjährigen Mädchen vor einem Edelstein, einer Amethisdruse. Es ist ganz andächtig und fragt mich, ob es die Kristalle anfassen dürfe. Ich nicke ihr freundlich zu. Vorsichtig streicht sie mit ihren Fingern über die lila-farbenen Kristallspitzen und stellt flüsternd fest: „Sie sind ganz kalt. Und ich weiß auch warum: Sie kommen aus dem Berg.“

Ich erinnere mich noch an eine eigene Kindheitsvorstellung und wie sie sich zusammensetzte. Was ein Knochen ist, hatte ich aus einem Bilderbuch erfahren: Im Körbchen eines Hundes lag ein Knochen. Ich hatte auch gehört, dass wir Menschen Knochen in uns haben. Und dass wir Blut in uns haben, hatte ich durch eigene Verletzungen gelernt. Ich stellte mir infolge dessen vor, dass die Haut ein sack-artiges Gefäß ist, das bis oben mit Blut gefüllt ist und darin die Knochen frei herumschwimmen. Irgendwann in der Oberstufe erinnerte ich mich an diese Vorstellung, konnte mich aber nicht an den Zeitpunkt erinnern, an dem die Korrektur stattgefunden hatte.

Die inneren Schätze hüten

Viele Eltern glauben, dass es ihre Aufgabe sei, den kleinen Kindern richtiges Wissen zu vermitteln. Dass kleine Kinder vor allem Logik lernen müssten. Und dass es besonders erstrebenswert sei, wenn kleine Kinder alles schon verstehen und erklären können. Meines Erachtens kommt es darauf aber nicht an, im Gegenteil. Sie haben Wahrnehmungen und sollen sie auskosten können. Gedankliche Ansprachen führen dazu, dass sie vorschnell aus der Welt der lebendigen Wahrnehmungen in die Welt der toten Gedanken geführt werden. Dort steht man der Welt als Beobachter immer getrennt gegenüber, während man, wenn man noch in den Wahrnehmungen lebt, verbunden und eins mit ihr ist. Eigene Wahrnehmungen sind ein Schatz und sie führen das Kind von selbst in die Welt der Gedanken, wenn wir sie staunen lassen – sie die Möglichkeit haben, sie auskundschaften, und lernen, mit Fragen zu leben! Und sich dadurch als ein „Ich“, das sich innerlich selbst bewegt, zu erleben.


Veröffentlicht in der Zeitschrift „Erziehungskunst – Frühe Kindheit“, 01/2023.

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