Die Welt der Kinder ist die Welt der Erscheinungen. Es ist die Welt, die sich uns zeigt, wie sie ist: Grünend, blühend, nebelverhangen oder strahlend blau. Sie zeigt uns Licht- und Geräuschqualitäten, Bewegungen, Beschaffenheiten, Formen und Farben.
Wir alle bewegen uns in ihr. Wir Großen können sie meist aber nicht mehr pur wahrnehmen, wie Kinder. Ebensowenig, wie man das Charakteristische einer Sprache, die man versteht und spricht, nicht erleben kann.
Das Charakteristische von Sprachen, die uns fremd sind, können wir einfach erleben: Ihre Melodie und die Komposition der Laute. Wir können sie nachahmen und schauspielend so tun als sprächen wir sie. Das ist kaum möglich bei der Sprache, in die man hineingeboren ist. Ihre Melodie und Lautgebilde treten hinter die Gedanken, die uns ihre Wörter vermitteln, zurück. Das Gedankliche verdrängt die Phänomene aus unserer Wahrnehmungsfähigkeit.
Ähnlich ist es mit der Welt, die uns umgibt. Als Kind erleben wir noch, wie sie sich uns zeigt. Wir haben noch nicht über sie nachgedacht. Die Dinge noch nicht bewertet. Sie nicht in Beziehung gesetzt. Sie sind einfach, wie sie sind und wie sie sich uns zeigen: Hell, dunkel, zackig, weich, hart, flauschig…
Wir Erwachsenen haben alles schon hunderte Male gesehen. Haben unsere Erfahrungen mit allem gemacht. Haben uns Begriffe für alles angeeignet. Und für jedes Ding eine Schublade in der Kommode unserer Vorstellungen gezimmert.
Einerseits ist es notwendig, Vorstellungen zu haben, andererseits trennen sie uns von der erneuten vorurteilsfreien Begegnung mit einem Ding im Jetzt.
Wenn wir es aber den Kindern gleich tun und uns unseres Urteils enthalten und es so betrachten, als sähen wir es das erste Mal, dann haben wir die Brücke gefunden, die uns in ihre Welt führt. Die Welt der Erscheinungen. Die Welt des SEINS. Der Lebendigkeit, die die Dinge erst in Erscheinung bringt. Die Welt, in der die Dinge sich selbst aussprechen. Ggf. führt uns das zu der Empfindung, unsere Vorstellungen umwandeln zu wollen. Wir merken dann, dass unsere alten Urteile zu klein sind und der Wirklichkeit nicht entsprechen. Und werden andächtig vor der Größe der Schöpfung.
Das Interessante ist, dass nicht nur die äußere Welt mit ihren sinnlichen Erscheinungen auf das Bewusstsein unseres Betrachters trifft, sondern auch unsere eigene Gedanken- und Gefühlswelt sich unserer inneren Betrachtung als ein Äußeres zeigt. Auch hier können wir uns für die Erscheinungen beginnen zu interessieren. Ihre Bewegungen, die sie machen. Und ihre Frage- und Antwortmuster zu bewundern!
Überhaupt ist das Bewundern und Staunen über das, was sich uns zeigt, das Tor in diese Welt, aus der wir lange vertrieben sind, auf deren Eingang uns die Kinder aber aufmerksam machen. Die Welt, in der sich uns das lebendige Sein zeigen kann. Die Welt der Ewigkeit. Die Welt, aus der wir kommen. Wo wir nicht abgetrennt, sondern verbunden sind. Aus deren goldener Substanz der Frieden ist.
Dort aufs neue heimisch zu werden, hilft uns der unausgesprochene Appell der Kinder: Werde heile. Deckungsgleich mit Dir selbst. Finde, als der Große, der Du geworden bist, wieder hinein in die Welt, aus der wir kommen. Werde ganz.
Wir bringen den Kindern das Leben auf der Erde bei, während sie uns in ihrem Sein immerzu auf den Himmel verweisen.
Veröffentlicht in der Zeitschrift „Erziehungskunst – Frühe Kindheit“ 02/2023
Sieh auch: