Was erwarten die Kinder heute und in Zukunft?
Der Mensch lebt in der Zeit. Dies bedeutet, dass zu unterschiedlichen Zeiten der Mensch ein unterschiedliches Verhältnis zu seinem eigenen Leben einnimmt. So ist das Verhältnis zum Leben am Morgen ein anderes als am Abend, am Lebensanfang ein anderes als in der Lebensmitte oder im Alter. Gleichermaßen ist das Verhältnis des Menschen zum Leben in verschiedenen kulturgeschichtlichen Zeiten völlig verschieden. Die Erwartung an das eigene Leben und die Erfüllung der eigenen Biographie sind so vor z.B. tausend Jahren ganz anders geartete, als sie es heute sind.
Eine Wissenschaft vom Menschen und seiner Bedingungen, wie z.B. die Erziehungswissenschaft, muss diese Integration des Menschen in seine jeweiligen Zeiten berücksichtigen. Hier liegt überhaupt der Schlüssel, das menschliche Phänomen der Entwicklung und Wandlung in die Betrachtung einzubeziehen; Entwicklung so verstanden ist nicht eine Anpassung an sich verändernde äußere Bedingungen, sondern ein dem Menschen innewohnendes Motiv.
Wandel der kindlichen Erwartungshaltung
Um die gegenwärtige Erwartungshaltung der Kindheit anschaulich zu machen, sei kontrastierend der Rückblick auf eine längst vergangene hohe Erziehungs- und Kindheitskultur geschaut, die altgriechische.
Altgriechische Pädagogik fand darin ihren Ausdruck, dass sie die Kinder in die Kultur hineinführte, der ein selbstverständlich erlebtes Bild des Menschen zugrunde lag. So war es selbstverständliches Empfinden, dass der Mensch gut entwickelt ist, wenn er körperlich harmonisch und schön entfaltet ist. Alle Kulturleistungen kommen wie von selbst hervor, wenn der Mensch körperlich gebildet und geformt ist. Also war Pädagogik im Kern Körperkultur, und der Kenner und Könner der Körperkultur, der Gymnast, war der anerkannt qualifizierte Pädagoge.
Pädagogik war – allgemeiner formuliert – ein Anpassungsvorgang an ein verinnerlichtes Bild des Menschen und der Menschheit. Das Kind wurde somit in eine bestehende Kultur eingeführt und erhielt gleichermaßen dadurch seinen Platz in seiner Zeit und seinem sozialen Umkreis. Alle Werte und Ideale, die ein sinnerfülltes Dasein ausmachen, lebten gewissermaßen im Umkreis, und Erziehung war der Vorgang, das Kind in diese gelebte Welt mit hineinzunehmen. Erziehung war somit gleichzeitig die Pflege der Einbindung des Kindes in einen geistig getragenen Zusammenhang; sie war gewissermaßen Belehrung des Kindes über die Bedeutung und Wirksamkeit des Göttlich-Geistigen im irdisch – sinnlichen Lebenszusammenhang. Deshalb war es auch höchste Erfüllung des Erziehungsgeschehens, wenn ein Kind zum Repräsentanten der geistigen Kulturwerte wurde, z.B. im antiken Griechenland Tempeldiener.
Dieses pädagogische Grundmotiv der von innen getragenen Anpassung an eine geistorientierte Kultur findet sich dann in ganz anderen Kultur- und Erziehungszeiten, z.B. der römischen oder europäisch-mittelalterlichen Zeit, wieder, wenn auch die geistigen Zielsetzungen natürlich andere gewesen sind. Letztlich ist dieses Grundmotiv in der bürgerlichen Erziehungspraxis des letzten Jahrhunderts gleichermaßen aktuell.
Im vorbereitenden und vertiefenden Blick auf die Begründung der Waldorfpädagogik finden sich in dem Vortragswerk Rudolf Steiners Aussagen über grundlegende Wandlungen der kindlichen Erwartungshaltung ihren Erziehern und ihrem zukünftigen Leben gegenüber; Erwartungshaltungen, die dem spirituell geschulten Blick sich darbieten und die ein Okular für die Betrachtung aktueller Fragen an Kindheit und Erziehung bieten.
So formuliert Rudolf Steiner in einem Vortrag am 22.1.1921, gewissermaßen im Vorgriff auf das weitere Jahrhundert und besonders auf unser Jahrhundert, dass das, was die Kinder an geistiger Mysterienweisheit früher durch Erziehung haben erfahren müssen und wollen, heute vorgeburtlich veranlagt ist.
„Man kann heute nicht über den Menschen, der geboren wird, so denken, wie man in alten Zeiten gedacht hat. In alten Zeiten hat man gewissermaßen den Menschen so betrachtet, dass man sagte: Der Mensch steigt auf die Erde herunter und ist dazu berufen, durch das Mysterienwissen eingeweiht zu werden in das, was er eigentlich als Mensch ist. So liegen die Dinge heute nicht… Man hat heute nicht mehr die Aufgabe, in das Kind gewissermaßen hineinzugießen, was in alten Zeiten in es hineingegossen werden musste. Man hat heute die Aufgabe, sich zu sagen: Das Kind ist belehrt.“
Was geschieht, wenn diese Voraussetzung der kindlichen Persönlichkeit missachtet wird, wenn anpassende Belehrung mit Blick auf ein vorherrschendes Kultur- und Menschenbild erfolgt? Auf diese Frage findet sich in einem am 11.9.1920 gehaltenen Vortrag Rudolf Steiners Antwort.
Wir erziehen „Rebellen, Revolutionäre, unzufriedene Menschen, Menschen, die nicht wissen, was sie wollen,… Wenn heute die Welt revoltiert, dann ist es der Himmel, der revoltiert, das heißt der Himmel, der zurückgehalten wird in den Seelen der Menschen…Den Himmel spüren sie in sich; er nimmt aber nur karikaturhafte Gestalt an in ihrer Seele.“
Ein zweites Motiv, moderne kindliche Grundstimmung zu zeichnen, findet sich in einem Vortrag Rudolf Steiners vom 12.6.1919. In diesem Vortrag beschreibt Rudolf Steiner die spirituelle Beobachtung, dass alle Kinder mit einem melancholischen Unterton ins Leben treten – anders als in allen Kindheitszeiten zuvor.
Die Begründung liegt darin, dass in der vorgeburtlich geistig erlebten Zeit die zur Erde drängenden Kinderindividualitäten den Seelen begegnen, die ihr Erdenleben gerade hinter sich haben, den Verstorbenen. Diese Begegnung lässt jedes Kind für einen Moment zögern, wirklich den Weg zur Erde antreten zu wollen,
„Denn sie wissen, wie ihnen gewissermaßen das ´geistige Gefieder´ zerzaust wird durch dasjenige, was die in materialistische Gesinnung und materialistische Weltanschauung und auch in materialistisches Tun getauchte Menschheit auf der Erde heute durchmacht.“
So ist das Erlebnis heute – anders als in früheren Zeiten, dass die Menschen, die ihr Erdenleben vollendet haben, dieses zunehmend nicht als erfüllt erfahren haben. Das Lebensgefühl, mit der eigenen Biographie einen erfüllten Bogen geschlagen zu haben, ist kein selbstverständliches Ergebnis im Rückblick auf das eigene Dasein.
Mit anderen Worten: Es kommt jedes Kind auf die Welt mit der Grunderfahrung, dass das Leben in dieser Zeit ein existentielles Risiko beinhaltet und in dem Sinne innerlich gefährlich ist.
Erscheinungsbilder heutiger Kindheit
Wie lassen sich solche Aussagen aus spiritueller Sicht im praktischen Erziehungsleben nachvollziehen?
Vor allem im Vorschulalter und in dem Alter der unteren Schulklassen treten nach Aussage aktueller Praktikerinnen und Praktiker zwei Auffälligkeiten immer mehr in den Vordergrund.
Zum einen nimmt die Zahl der Kinder zu, die dadurch auffällig sind, dass sie die Eigenschaft haben, unauffällig und unbemerkt zu sein. So gibt es viele Kinder, von denen die Pädagogen wissen, dass sie formal anwesend gewesen sind, jedoch sich einer intimeren Beobachtung entziehen – etwa der Art, dass es enormer Aktivität bedarf, um zu ahnen, wie es den Kindern z.B. bei den einzelnen Elementen des Kindergarten- oder Schultages geht, mit welcher Freude oder Unlust sie beteiligt sind, wie sie zuhören können, wie sie sich mitbewegen etc.. Es handelt sich um eine Tendenz der Kindheit, nicht deutlich in die soziale und sinnliche Erscheinung zu treten, sich gewissermaßen zurückzunehmen und wie von außen dem eigenen Lebensumfeld gegenüberzustehen. Bildlich gesprochen erscheinen solche Kinder wie „wund“, die fast ängstlich eine Reibung mit den Berührungsflächen des Lebens meiden und somit auffällig verhalten ihren eigenen Lebensumkreis ergreifen. Bis in physiologische Erscheinungsformen, z.B. der Neurodermitis, äußert sich dieses „Wundsein“.
Die andere dominante Tendenz moderner Kindheit in der zeitgenössischen Gesellschaft ist die gegenläufige: Kinder, die durch ein übermäßig deutliches Sich-in-Szene-Setzen in die Erscheinung treten. Hier sind alle Formen des aggressiven Verhaltens oder der Hypermotorik und Hyperaktivität zu nennen. In überdeutlicher Weise „protestieren“ diese Kinder gegen die Maßnahmen und Versuche, „Kultur“ an sie heranzubringen. Besonders Momente verinnerlichter Stimmung – z.B. Erzählphasen, feierliche Momente oder Stille- können diese Kinder kaum ertragen und müssen ausbrechen, wenn sie nicht durch fragwürdige strenge und unterdrückende Maßnahmen daran gehindert werden.
Motive kindlicher Auffälligkeiten
Welches moderne Motiv der Erziehung der Kinder liegt in diesen Phänomenen begründet?
Zum einen ist es der Zweifel, dass das Leben auf dieser Erde und in dieser Gesellschaft zur Erfüllung geraten kann, der das Kind so verhalten sein lässt. Zum anderen ist es die innerlich latent vorhandene Realität, dass die Weisheit vom Sinn des Lebens nicht von außen, sondern nur aus dem eigenen Innern hervorgeholt werden kann. Nicht Belehrungen über den Sinn des Daseins, sondern in der Begegnung erlebte Sinnhaftigkeit des Daseins ist die latente Erwartung der Kinder – eine Erwartung, dass der erziehende Erwachsene sein Leben sinnvoll erfüllt.
Damit ist der Blick weg vom Kinde zum Erzieher gerichtet: Eine moderne Erziehung, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden will, verlangt nicht den einseitigen Zugriff auf die Situation der Kinder, sondern bezieht die individuelle intime Lebensgestalt des Erziehers gleichermaßen mit ein. In diesem Sinne ist Pädagogik heute nur systemisch zu verstehen als Partnerschaft, aber nicht in einem sentimentalen Sinne, sondern mit dem tiefen Ernst, dass nur derjenige erziehen kann, der bereit ist, in der Begegnung mit dem Kinde selbst zu lernen. So ist die Behauptung Rudolf Steiners erst verständlich, dass erst dann von Erziehung gesprochen werden kann, wenn der Erzieher mindestens genauso viel lernt wie das Kind. Wenn nicht, handelt es sich um eine andere Begegnung, die vielleicht Anpassung an bestimmte Normen beinhaltet, aber nicht den Menschen erzieht.
Das Moderne in der heutigen Kindheit
Wie lässt sich dieses Motiv als ein der aktuellen Zeit entsprechendes verstehen?
Zwei Tendenzen zeichnen ein Bild der Gegenwart:
Zum einen leben wir in der Epoche der sog. Globalisierung. Dies bedeutet, dass eine Entfaltung von Kultur- und Gesellschaftsprozessen nicht mehr in einem isolierten Raum erfolgt, sondern die Eigenschaft hat, sich sofort weltweit zu verbreiten und der ganzen Menschheit zu Verfügung zu stehen. Dies hat zur Folge, dass Werte, Normen, Traditionen, Bräuche etc., die einer überschaubaren Menschengemeinschaft zu eigen gewesen sind, eine immer geringer werdende Gestaltungskraft ausüben.
Die andere Tendenz ist die Entsprechung der ersten: Der Einzelne wird – was seine Motivlage dem Leben gegenüber und somit auch sein Selbstbewusstsein und sein Selbstwertgefühl betrifft – immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen. Die ihn umgebenden „Hüllen“ seiner Herkunft, seines Standes, seiner Religion, seines Geschlechtes etc. haben zunehmend geringere Bedeutung und nicht mehr die Kraft, von innen getragene und verantwortete Motive zu schaffen. Gerade die Gegenwart sieht deswegen auch so viele kleine und große Probleme zwischen den Generationen, die momentan sehr deutlich diesen radikalen Wandel aufzeigen. Eine erfolgreiche Sozialisation und Entwicklung führt – streng gesprochen – demnach auch nicht mehr zu einer herausragenden Repräsentanz einer Gruppenwertewelt, sondern zu einer individuellen Gestalt, die einmalig und unverwechselbar ihre Biographie meistert. Anders formuliert heißt dies: Der Mensch wird zum Selbstgestalter seines Schicksals und setzt selbst moralische und menschliche Normen, die seinem Handeln zugrunde liegen. Der Mensch ist immer mehr ausschließlich selbst verantwortlich für die Erfüllung seiner Biographie.
Dieses das Leben vorblickende Erlebnis bringen die Kinder aus ihrer vorgeburtlichen Sphäre mit ins Leben als Erwartung an die Begegnungs- und Lernformen und -momente. Insofern ist Erziehung heute – anders als zu den langen Zeiten der Anpassung an eine allgemeine Wertewelt – ein Akt der intimsten Schicksalsbegegnung.
Vielleicht erklärt dieser Blickwinkel auch das Phänomen, dass zunehmend erfahrene Pädagogen das Gefühl haben, wenn sie neue Kindergartengruppen oder Schulklassen übernehmen, vor neuen und schwierigeren Aufgaben zu stehen, die – trotz zunehmender Erfahrung – ein Scheitern nicht ausschließen.
Für die Gestaltung pädagogischer Einrichtungen und Zusammenhänge hat das zur Folge, dass der einzelne Pädagoge einen immer größer werdenden Freiraum benötigt, um sich auf das „Abenteuer Erziehung“ einlassen zu können. So ist die Aussage Rudolf Steiners bei Begründung der Waldorfpädagogik verständlich, dass der Lehrplan aus der Begegnung des Pädagogen mit den einzelnen Kindern immer wieder neu zu erstehen hat – unabhängig davon, dass altersspezifische Entwicklungsrhythmen in Kindheit und Jugend walten.
Damit wird ein weiterer Aspekt angesprochen: Moderne Erziehungswissenschaft kann keine allgemeine sein, die theoretisch „ausgedacht“ und erforscht werden kann. Sie kann nur in der verantwortlichen Verbindlichkeit der erzieherischen Aufgabe gegenüber geboren werden, da der Forscher und Wissenschaftler – anders als beim traditionellen Wissenschaftsbegriff naturwissenschaftlicher Prägung – mit seiner Biographie unmittelbar einbezogen ist in das zu erkennende Feld. Der moderne Erziehungsbegriff weist hin auf die intimen Willensintentionen und Visionen auch des Pädagogen – nicht nur die des Kindes. Deshalb gehört es zu den professionellen Basisqualifikationen, die eigenen Lebenserfahrungen so reflektieren zu können, dass eigene Ziele als Willensintentionen der eigenen Persönlichkeitsentwicklung gegenüber erkennbar und kraftvoll werden.
Literatur:
- Steiner, Rudolf: Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Dornach 1977. GA 193. Vortrag vom 12.6.1919
- Steiner, Rudolf: Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung. Dornach 1967. GA 199. Vortrag vom 11.9.1920
- Steiner, Rudolf: Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung. Dornach 1978. GA 203. Vortrag vom 22.1.1921