Jeder kennt sie, diese Widersprüchlichkeiten in sich selbst:

Obwohl ich seit einem halben Jahr wirklich gerne dieses schöne Bild kaufen, rahmen und aufhängen möchte, ist noch nichts in dieser Richtung passiert. Auch die Antwort auf den Brief eines lieben Menschen, ist längst überfällig. So liegt auch das Päckchen an mein Patenkind seit einem Monat halb fertig, unabgeschickt noch hier und verstaubt…

Warme Füße tun mir gut. Fühlen sich schön an. Was ist da los, wenn ich mir nicht sofort die Hausschuhe anziehe und meine Füße erst auskühlen lasse? Nichts macht meinen Tag angenehmer, als ausreichend geschlafen zu haben – und trotzdem fange ich oft zu spät mit meinen Schlafvorbereitungen an. Ich könnte sie doch einfach 30 Minuten oder sogar eine Stunde vorverlegen! Ja, das stimmt! Ich kann sie vorverlegen. Nur einfach ist es nicht. Ich muss es aktiv wollen. Und dann tatsächlich TUN. Im entscheidende Augenblick. First things first! Schwer genug!

Diese Dinge, die einem wichtig sind, müssen gegenüber anderen Impulsen, Notwendigkeiten und Pflichten des äußeren Lebens durchgesetzt werden. Und nur ich kann es tun. Niemand sonst. Je geschickter und entschiedener ich in mir selbst werde, diese Dinge immer wieder und regelmäßig zwischen allem anderen einzufädeln, desto mehr fühle ich Übereinstimmung mit mir selbst.

Es gibt ein Gesetz der richtigen Reihenfolgen. Wer darauf achtet, kann es spüren. Folge ich ihm, wachse ich in meine Freiheit. Ich habe dann die Bedingungen geschaffen, dass Erfüllung in mich strömen kann. Zufriedenheit ist ihr Geschenkt. Und Gelassenheit. Annahme und liebevolles Verständnis gegenüber allem noch unfertigen. Bei mir und bei anderen. Und der Humor gedeiht.

Beim Kind ist es nicht anders als bei uns. Es hat einen Impuls und will ihn umsetzten. Sofort. Wie ich. Morgens aufspringen, ohne mich um Hausschuhe zu kümmern, um sofort meine Idee umzusetzen; oder direkt nach dem Waldspaziergang mit Erdklumpen an den Schuhen losrennen, etwas ganz Wichtiges im hintersten Winkel des Hauses zu suchen; oder beim Essen immer wieder aufstehen oder auf’s Handy gucken, noch eben etwas anderes zu tun…

In der Waldorfpädagogik wird von Selbsterkenntnis und Selbsterziehung gesprochen. Denn wollen wir Kinder erziehen, müssen wir eine Ahnung davon entwickeln, wohin wir sie erziehen wollen.

Welches Ziel kann Erziehung aber haben? Schließlich wollen wir die Kinder nicht mit unseren Wunschvorstellungen von ihrem Leben bedrängen! Mir stellt es sich so dar, dass das Erziehungsziel allein die persönliche Freiheit sein kann. Dass ich nur dann dem Kind nichts fremdes überstülpe, wenn ich dieses eine Ziel verfolge. Natürlich auf meine ganz eigene Weise. Ich helfe ihm, etwas zu erleben, dessen Folgen gemeinsames Glück und Beziehungsgold sind. Die es aus eigenem Wunsch gerne wieder aufsuchen möchte und freiwillig bereit ist, sich die entsprechenden Verhaltensweisen zu eigen zu machen.  Weil es fühlt, dass es da am schönsten ist!

Ich versuche, die Kinder mit Geschicklichkeits-Equipment auszustatten, viele verschiedene Wege in dieses Glück und Beziehungsgold zu meistern.

Solange die Kinder noch Kinder sind, brauchen sie uns dafür. Sie können es nicht alleine. Und wir können die Bedingungen der Freiheit auf dem Feld unserer eigenen Biographie erforschen. Das sollen wir auch. Selbst immer freier werden. Die Kinder helfen uns dabei. Stoßen uns immer wieder unsanft an, selbsterkennend tätig zu sein. Und wir müssen ihnen dann zeigen, wo entlang der Weg geht. Wie und in welcher Reihenfolge die Dinge gemacht werden wollen, so dass sie uns nicht dauernd behindern. Wir wollen ja in den Frieden, die Freude und in den (Beziehungs-)Raum, in dem wir uns selbstbestimmt und wirklich frei fühlen können.

Dieser Raum hat aber eine Tür. Und eigentlich ist es kein Raum sondern ein Schloss, durch das wir wandeln. In dem wir leben wollen. Darin ist alles prächtig, edel, fein und schön. Wer einmal darin war, weiß, dass es nirgends schöner ist als dort! Aber immer wieder finden wir uns vor einer verschlossenen Tür, dem Portal oder gar außerhalb des Schlossgartens vor seinen Mauern wieder.

Und es ist ein spirituelles Gesetz, dass wir niemals gewaltsam wieder hinein können. Die Türen öffnen sich aber ganz von alleine, wenn wir die richtige Haltung in uns bilden und die passenden Eingenschaften leben. Sie sind die Schlüssel zu all den Türen.

Versinnbildlicht ist es im grimmschen Märchen der Frau Holle dargestellt. Das eine Mädchen hört den Backofen und den Apfelbaum rufen, sich doch bitte um sie zu kümmern. Das macht es und führt auch den Auftrag der Frau Holle gewissenhaft durch, ihr Bett kräftig aufzuschütteln, dass die Federn nur so fliegen! Ohne zu zögern tut es, was das Leben von ihm verlangt. Die andere will nicht. Widersetzt sich dem Leben. Beiden werden ihre Arbeiten entlohnt, der einen mit Gold, das auf sie nieder fällt und sie ganz bedeckt, der anderen mit Pech, das ebenfalls ihr Lebtag an ihr haften bleibt.

Und wenn ich mir selbst über die Schulter schaue oder einem Kind begegne, ist es für die Selbst- und Kindeserziehung hilfreich, ein feines Gespür dafür zu entwickeln, ob da gerade Frau Holles Goldmarie oder die Pechmarie der Witwe vor mir steht. Beide tragen wir ja in uns. Welche will da gerade etwas von mir?

Die Goldmarie lässt ihre Füße nicht auskühlen. Sie folgt gesunden Reihenfolgen. Macht sie sich zur guten Gewohnheit. Zieht sich die Straßenschuhe an der Haustüre aus, hängt ihre Jacke auf und wäscht sich die Hände, bevor sie in ihr Zimmer flitzt. Sie bringt das Bild zwischen dem Einkauf und dem Friseurtermin an der Wohnzimmerwand an, macht das Päckchen fertig und nimmt es gleich mit zur Post. Sie lässt die kleinen Kinder, die noch nicht warten können großzügig vor, mit dem selbstsicheren Bewusstsein, ja schon groß und das heißt geduldig zu sein. Sie springt den Kleinen auch aus schönstem Selbstgefühl heraus bei, wenn sie ihnen helfen kann, denn „Sie sind ja noch klein und nd können es noch nicht selbst!“

Diese Goldmarie ist der Adressat meiner liebevolle Fürsorge. Bei mir selbst und beim Kind. Sie ist in jedem Menschen zu finden. Und ich, das heißt meine Goldmarie, sucht sie im Kind. Freut sich mit dem Kind, wenn sich die gleichen Schwestern gefunden haben. Und aus dieser freudvollen Beziehung steigen wir nicht mehr aus! Nur darin können wir gemeinsame Sachen machen. Im goldenen Schloss! Die Kinder lieben es. Und ich auch.

Die Pechmarie kann nicht hinein ins Schloss… Das ist klar. Sie wissen es auch selbst – und legen, wenn sie ihren Pechmantel kurzfristig umgehängt hatten, ihn doch schnell wieder ab und kommen mit ihrer  liebenswürdigen Schönheit zurück in unser goldenes Schloss.