Ich war sieben Jahre alt, wir waren auf einer Autofahrt und ich hatte einen Apfel. Meine Mutter erzählte mir aus diesem Anlass von einem Erlebnis, das sie einmal mit einem Apfel gehabt hatte. Das war für mich der Beginn einer Verwandlung meiner Beziehung zur Welt.
Sie hatte ihren Apfel essen wollen, aber sie biss nicht einfach hinein. Nein, zuerst nahm sie ihn und schaute sich ihn ganz genau an. Seine Farben und die Form. Dann rieb sie ihn so gründlich mit ihrem Ärmel, bis er glänzte und das Licht von ihm widerstrahlte. Dabei habe er einen starken, frischen Duft verströmt. So zögerte sie es weiter hinaus, ihn einfach aufzuessen. Spürte seine Kälte in ihren Händen. Einen so leckeren Apfel hatte sie zuvor noch nie gehabt! Gekracht hätte der erste Bissen. Und geschäumt der Apfelsaft! Süß sei er gewesen. Ganz abgenagt bis zum letzten bisschen hätte sie das Kerngehäuse.
Ob sie wusste, welches Geschenk sie mir mit dieser kleinen Geschichte gemacht hatte? Nicht nur, dass sie den Apfel für mich dadurch geadelt hat. Ich hatte durch ihre Schilderung erfahren, dass etwas wertvoll wird, wenn wir uns zurücknehmen und unsere Sinne für es aufschließen: Ganz genau erleben, was das Ding unseren Sinnen zu Erleben gibt. Dann ist es nicht länger mehr ein Anonymes, sondern es wird einzigartig! Wie die Rose des kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry sich von allen anderen Rosen unterscheidet, weil er auf diese Weise in eine Beziehung mit ihr tritt und sie pflegt.
Später, als Pädagogin, habe ich mir dieses Vorgehen zur Methode gemacht. Ich verbinde mich sinnlich mit dem was ich tue. Wecke meine Sinne für das Ding, die Sache oder die Aufgabe, mit der ich gerade umgehe, auf und nehme sie in einer annehmenden Weise, das heißt vorurteilslos, wahr und setzte mich so mit ihnen in Verbindung.
Ich weiß und verlasse mich darauf, dass kleine Kinder auf uns Große ausgerichtet sind und uns sehr tief wahrnehmen. Und ich habe erfahren, dass sie aus ihrem tiefsten Wesen heraus uns nachahmen wollen. Sie wollen alles genau so machen wie wir! Selbst so ein Großer sein!
Indem ich voller Ernsthaftigkeit das zu Erledigende so umfänglich als möglich wahrnehme und mich so mit ihm in Beziehung setze, hebe ich es hervor und auch empor. Es erhält Bedeutung durch meine Zuwendung. Es wird zu etwas Schönem. Alles kann auf diese Weise einen Wert erhalten: Ein Fussel, ein Korken, ein Fädchen, das Fegen, das Fensterputzen, das Tischdecken, das Tischabräumen, Tischabwischen, Spülen, Abtrocknen, Geschirr-Wegstellen, Müllbeutel wechseln, Blumengießen, Schnürsenkelbinden, ein verlorenes Ringlein im Sand suchen, ein Buch vorlesen.
Alles ist besonders, wenn ich es auf diese Weise bei seiner Würde nehme.
In der Krankenpflegeausbildung habe ich bei dem Einsatz auf der Kinderstation einen kleinen Jungen in diesem Bewusstsein mit in den Pflegearbeitsraum genommen, er durfte mir helfen. Wir wechselten den vollen Wäschesack aus, knoteten ihn zu, spannten einen leeren in das Gestell, klappten gemeinsam das Halterungsgummi hoch, machten den Deckel zu, rollten ihn wieder in seine Ecke, schleppten den vollen Sack weg. Es war etwas Großes. Für uns beide. Weil wir es der Sache gemäß taten, ganz dabei waren und ein Team! Bei einer späteren Begegnung mit der Mutter in der Stadt, sagte sie mir, dass ihr Kind heute noch vom Krankenhaus erzähle und es glaube, dass es mir gehöre. In gewisser Weise hatte es recht: Was man liebt, gehört einem auch (an).
Zurück zum Apfel: In der Schule, vielleicht war es in der fünften Klasse, lernten wir im Hauptunterricht mit unserer Lehrerin das Gedicht vom „Wirte wundermild“. Voller inniger Verbundenheit erlebte ich das Geschilderte und es stiftete eine schöne Beziehung zum Gehörten: Gras wurde zur weichen Matte, Schatten zur Freudlichkeit des Wirtes… Hinter unseren Stühlen stehend sprachen wir es zusammen im Chor:
Einkehr
Bei einem Wirte, wundermild,
Da war ich jüngst zu Gaste;
Ein goldner Apfel war sein Schild
An einem langen Aste.Es war der gute Apfelbaum,
Bei dem ich eingekehret;
Mit süßer Kost und frischem Schaum
Hat er mich wohl genähret.Es kamen in sein grünes Haus
Viel leichtbeschwingte Gäste;
Sie sprangen frei und hielten Schmaus
Und sangen auf das beste.Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
Auf weichen, grünen Matten;
Der Wirt, er deckte selbst mich zu
Mit seinem kühlen Schatten.Nun fragt ich nach der Schuldigkeit,
Da schüttelt‘ er den Wipfel.
Gesegnet sei er allezeit
Von der Wurzel bis zum Gipfel!Ludwig Uhland (1787 – 1862)
Es gibt so vieles, das einem geschenkt wurde und für das man Dankbarkeit empfinden kann!