Hinaus aus dem rationalen Denken – hinein in das Erleben

Staunen – die Welt ist voller Wunder! Und wir großen Leute sollen es den Kleinen nicht abgewöhnen. Sollen unserem dürr gewordenen, trockenen Denken wieder Frische und Leben zufließen lassen. Weg kommen davon, sofort für alles eine rationale Erklärung zu haben – hin zum Wahrnehmen und Erleben der Phänomene. Die Erscheinungen wirklich ausgiebig mit allen Sinnen wahrnehmen. Unseren Erklärzwang überwinden.

Das ist schwer. Aber wenn wir über die Sache nachdenken und erkennen können, dass wir uns und den Kindern damit einen großen Gefallen tun, dann kann das ein Ansporn sein. Die Kinder zeigen uns, wie das Staunen und Fragen-Haben geht, wenn wir es ihnen nicht austreiben.

Begegnung mit sich selbst

Erklär- und Redezwang sind auf jeden Fall Symptome des Erwachsenenseins. Es lohnt sich so sehr, Wege zu finden, weg davon! Dann ist man allerdings auch sofort mit sich selbst konfrontiert. Und da geht der Weg entlang: Ins Erleben. Selbstwahrnehmung. Sie kann zur Selbsterkenntnis führen und zu dem Entschluss sich selbst wandeln zu wollen. Sich selbst zu erziehen. Selbsterziehung ist die Grundlage für die Kindeserziehung.

In seine eigenen Kindheitserlebnisse schlüpfen und Empathie mit dem Kind üben, das man selbst war.

Erinnern Sie sich an ihr eigenes Seelenleben als Kind? Die philosophischen Fragen? Und deren Ernst?

Es gab Dinge, die haben mich schwer beschäftigt. Und es war gut, dass ich einfach mit diesem, meinem Staunen und Wundern, leben durfte.

Als Vier- bis Sechsjährige habe ich mit der Verwunderung gelebt, dass meine großen, erwachsenen Eltern, die mir meine Welt bedeuteten, selbst einmal kleine Babys waren! Kleine, hilfsbedürftige Säuglinge, die getragen und gefüttert werden mussten. Und eines Tages ebenso alt waren, wie ich: Vier, fünf, sechs.

Wie kann das sein? Wie kann aus einem Kind ein Erwachsener werden? Und wie aus mir? Wie würde das für mich sein, einmal groß und nicht mehr Kind zu sein? Dass es etwas ganz anderes ist, Kind- und Erwachsenensein, das war ja deutlich erlebbar. Und ich hatte sehr lange die ernste Frage, ob man denn länger Kind oder länger Erwachsener ist im Leben.

Geschichten aus der Kindheit meiner Eltern haben mich fasziniert. Und ich habe sie immer wieder gebeten, mir davon zu erzählen.


Einmal, ich muss drei oder vier gewesen sein, waren wir im Urlaub auf einem Bauernhof. Eines Abends war es so, dass man nichts mehr sehen konnte. Gerade noch die eigene Hand vor den Augen. Aber weiter nicht. Hören konnten wir uns. Ich musste an der Hand bleiben, dass ich nicht verloren ginge. Jemand hatte eine Taschenlampe. Sie warf helle Kegel in die Luft, die wie Milch war.

Was ist Nebel? Diese Milchluft? Die sich auf die Erde legen kann? Und um uns? Später habe ich dann bei Spaziergängen, Zug- oder Autofahrten Nebel über Wiesen, Seen und Feldern Auf- oder Niedersteigen sehen.

Wie besonders es war, als dann als Schulkind die Erkenntnis irgendwann dazu kam, dass es mit der Sonne zu tun hat. Dass es ihre Kraft ist, die die Nebel heben kann! Und in ihrer Abwesenheit nach Sonnenuntergang, „die Wolken nieder-sinken“. Ein Heben und Fallen. Ein Steigen und Sinken. Und der ewige Gang der Sonne um die Erde. Immer. Nie nicht!

Auch wenn irgendwann das heliozentrische Weltbild unterrichtet wurde. Wieder ein Wunder! Dass alles sich in geordneten Bahnen um ein Zentrum bewegt und dieses Zentrum die Sonne ist! Es ist wie in uns selbst. Alles dreht sich um unsere Sonne! Den Erscheinungen nach darf dennoch gesagt werden, dass es die Sonne ist, die um die Erde geht. Das ist schließlich das Erlebnis.


Nochmal zurück zu den Erwachsenen, die ich so bestaunte. Was hat es mit ihnen, die so anders sind als wir, Kinder und Jugendliche, auf sich?

Ich begegnete solchen, zu denen ich eine Beziehung hatte: Lehrern, Eltern von Klassenkameraden, Gemeindemitgliedern. Wir haben einfach die Beziehung gelebt, die wir hatten, die stand im Mittelpunkt meines Erlebens und Interesses.

Dann gab es aber all die vielen Erwachsenen, die ich nur „von außen“ kannte, weil ich allmorgendlich mit ihnen in Bus, Bahn und Zug fuhr. Mit denen ich nur zu tun hatte, weil sie mir mit ihrem ganzes Ausdruck ihres So-Sein gegenüber waren.

Das Auffälligste waren ihre Gesichter. Ein Ernst lag in allen. Keins wie das andere. Und doch gibt es Ähnlichkeiten. In der Physiognomie und in der Seelenfarbe, die sich über die Ernsthaftigkeit legt. Sorgen können sich ins Gesicht einschreiben. Und Verdruss. Schmerzen. Hohn, Spott, Arroganz. Milde, Humor, Freundlichkeit. Scheinbar können wir unser Wesen nicht verstecken. Es tritt in Erscheinung. Es prägt von innen heraus: Uns. Mimik, Gestik, Gang und Haltung.

Wie sehr habe ich die vielen Geschichten, die mir in meiner (Waldorf-) Kindheit und Jugend erzählt worden sind aufgesogen, aus denen allen hervor ging, dass wir selbst einen Entscheidungsmoment in uns haben, der uns selbstbestimmt darin macht, zu wem wir uns hin entwickeln! Dass wir immer eine Wahl haben, wie wir uns zu etwas innerlich stellen wollen. Dass es zwar Prägungen gibt, denen wir aber entkommen können.

Alle grimmschen Märchen zeigen das. Sagen, Legenden, Fabeln. Die Theaterstücke der großen Meister. Biographien. Selbst Belletristik. Auch die mini kleinen Geschichten aus dem Alltag, die wir Kindern erzählen können.

Dieser Zeit- und Ruheraum der Kindheit und Jugend, in meinen Beobachtungen und philosophischen Fragen wirklich lange Jahre leben gekonnt zu haben, waren Samenkörner für meine Seele. Und ich trotze es dem Erwachsensein ab, ihn weiterhin offen zu halten. Die Kinder erinnern mich und machen es mir vor.